Birgit Kempker, Dienstag, 9.02.10, die besprochene Sammlung / vorläufige Fassung
Elvira Walli sammelt Karten, Postkarten, seit die Zwillinge da sind und Ruedi 14 ist, Marietta 12 und Ursi 11. Angefangen aber hat es mit Stichen, vor der Hochzeit, für 20, 30 Franken vom Lohn als Bassgeigerin, abends, Stiche von Fideris, dem Ort des Liebsten, wo sie bald mit ihrer Familie wohnen wird und ihr Mann aufgewachsen ist. Das ist wichtig.
Fideris wird schon bevor es real und bis heute (von der Familie Walli in Strahlegg) bewohnt wird, besetzt, in Augenschein und in Miniatur nah an den eigenen Körper genommen, in eine Behausung, in eine Handtasche, in einen Rahmen, in eine Kommode, oder an eine Wand, in eine Nähe, die noch nicht in Fideris ist, aber bald. Das ist es, was Karten tun, sie beschreiben den Ort, besetzen ihn, markieren ihn, definieren ihn und erfinden ihn neu, erschaffen ihn in gewisser Weise und verschicken die Besetzung (es sind Postkarten). Sie sortieren, variieren, ordnen, machen den Ort zugänglich, heimelig. Sie vergewissern den Standort, das Motiv, und die Standortgebundenen, dass der Standort existiert und existiert hat und vermutlich weiter existieren wird, in der Welt ist, ablichtbar, verfügbar, überhaupt reproduzierbar und colorierbar. Wer, wie Elvira, Postkarten sammelt vom Ort, wo sie lebt, eignet sich den Ort an und wiederholt ihn mit minimalem kreativen Aufwand, scheint es, und wird auch deshalb belächelt oder ausgelacht, und doch mit einer gewissen Trance, also Wirkung. Vielleicht kommt ja daher das Lächeln der anderen, sie ahnen, da geht was vor sich, wovon niemand so recht Herr und oder Frau ist, etwas Unberechenbares, trotz Kalkül.
Trance als Medium der Brücke zwischen Zeiten, Orten und Zuständen, eigenen und fremden. Toten und Lebendigen nämlich. Zurück. Sammeln ist meist nicht filmen, nicht zeichnen, nicht kneten, nicht backen, nicht malen, nicht sticken, nicht weben, nicht sägen, nicht hämmern und nicht schreiben, aber Achtung! Diese Art der Aneignung ist subversiv, und ist vielleicht sticken, sägen, pflanzen, filmen, schreiben .... sammeln? Eben, auch wenn sie, die Art des Sammelns, nach allen alten Regeln, die jede Sammlung wieder neu bestimmt, verfährt, ist da noch was
Die Sache, diese aufgeladene Sammlungssache, sieht leicht angepasst und selbst einordbar aus und sie ist es auch und trotzdem, sie trotzt wem, wem? Welches Wesen sitzt da mit der Lupe über den Folianten nachts wenn die Kinder schlafen? Wer zieht eigentlich mit Helene durch die Flohmärkte und Bahnhofsbuffets und handelt und sucht aus und tauscht, entwickelt Kriterien, Gesichtspunkte, nach denen zu kaufen ist, einzuordnen und was nicht darunter fällt, was fehlt, wann eine Serie vollständig ist, immer begierig die Lücke zu finden und zu schliessen. Wer ist dieses Wesen, dieses Sammelwutwesen in Elvira, das dicke braune Plastiklederordner beschriftet, und Seite um Seite anlegt, wie z.B. acht mal die Sicht auf den Bahnhof von Landquart. Landquart? Ja, der geografische Raum der Postkartenerfassung zieht Kreise um Fideris, Fideris Bad, Landquart, Grüsch, Küblis, Valzeina, Seewis, Pardisla, Fanas bis Chur, und Strahlegg, bis Heuberge. Fünf Mal die Sicht auf Bad Fideris, Trinkhalle, drei Mal dasselbe Foto, derselbe Ausschnitt, andere Auflage, andere Schrift, anderer Rand, zwei Mal fast dasselbe Foto, zeitverschoben, also bei genauem Hinsehen, dasselbe Motiv, aber eine unmerkliche Verschiebung in den Personengruppen, der Herr mit Stock in der Mitte steht genauso da, aber die Leute auf den Bänken rechts und links sind halb ausgetauscht, unheimlich, und plötzlich wird klar, die Wirklichkeit verändert sich unter den sammelnden Händen und Blicken. Nicht nur brennen Häuser ab, verrutschen Strassen, ertrinken Schwimmbäder bei Überschwemmungen und verschwinden Bahngleise, Bäume und Hotelkomplexe, das ist offensichtlich, doch es sind auch die Dinge, die sich nicht verändern, die sich vielleicht gerade darum verändern. Es ist auch im Kleinsten auf den Postkarten vieles gleich und gleichzeitig in Veränderung. Und wenn man jetzt noch weiss, dass Personen auf Fotos verschwinden können, wenn sie sterben, wird die solide Grundlage des Sammlerlateins, sammeln was war, sammeln was ist, Raum schaffen für Sammlung von dem was sein wird, - dann hast du was du hast und sogar was sein wird,- brüchig.
Und auch die Vorstellung, zu sammeln, was sein wird, ist eine Illusion, eine tröstliche.
Nichts ist wirklich zu haben und nichts bleibt wie es ist, deshalb die Sammelwut. Oder Sammelwehmut. Geschirr, Krüge, Puppen, Geweihe, Trophäen, aber auch Erinnerungen, Schmerzen, selbst Krankheiten sind so gesehen Sammlungen, freiwillige und unfreiwillige und der Unterschied zur angelegten Sammlung ist die Kontrolle. Wer Sammlungen anlegt, sie ablegt, scheint eine kleine Autonomie in der eigenen Sammlung zu erreichen, das ist vielleicht der Kick und die Gefahr, dass diese angegriffen wird, das Sammelgut sich verändert, fehlende Stücke nicht gefunden werden, Lücken nicht zu schliessen sind und aber das Fieber, oder Feuer, Lücken schliessen zu können und den Kosmos perfekter zu machen, gehören dazu; und so zum Kosmos dazuzugehören, nicht nur konsumierend und konsumiert werdend, sondern auch zu gestalten.
Sammlungen sind Materie und deshalb schwer. Sie müssen abgestaubt, transportiert und minimal gehegt werden, der Klebstoff kann brüchig werden, das Plastik wellig, dies ist das Feld der Archivare und Restauratoren.
Andererseits erleichtern die Postkarten auch die Orte, die sie transportieren. Neu gesehen, buchstäblich beschrieben, belichtet, geschnitten, bemalt und geklebt, legen sie Schichten frei, vom Original und legen Schichten auf das Original. Na, was ist das Original?
Der Kosmos der existierenden Postkarten eines kleinen Ortes in einer begrenzten Zeit ist nicht endlos. Er ist theoretisch vollständig abgelaufen und perfekt per Sammeln herzustellen, zu rekonstruieren. So gesehen ist Sammeln also bauen? Das Sammeln weiss, welche Postkarte fehlt, welche Farbe am Rand, welche Auflage. Natürlich ist nicht jede Postkarte verschickt oder verkauft worden, die hergestellt wurde, also auch nicht auffindbar, schon theoretisch nicht; oder sie ist im Mülleimer, oder verbrannt oder übermalt. Von jedem Exemplar aber eine Kopie zu ergattern, das ist wahrscheinlich und möglich und da Sammler Jäger sind, ruht der Jagt nicht, denn nie ist mit Sicherheit jede Karte im Besitz der Sammlung.
Beim Durchblättern der Ordner ist für die Sammlerin jede Karte mit verschiedenen Geschichten verbunden, die Geschichte des Motivs, die Geschichte des Erwerbs der Karte, die Geschichte der verschiedenen Sichtungen des Ortes, die Geschichte der Besichtigungen der Karten selbst, wenn weder Ort noch Person bekannt wären, wären die Karten für die Sammlerin nicht mehr attraktiv. (Bei den Grusskarten ist das etwas ganz anderes, funktioniert da das Wiedererkennen, weil die Ereignisse bekannt sind, Ostern, Weihnachten, Neujahr, Engel, Tannenbaum ...?)
Als Gast der Sammlung fallen mir heute die Gärten auf, die Gesellschaft vom schwarzen Garten, das Allmeindli, die Miniaturgärten und die Gartengesellschaften, etwas Französisches im Prättigau, morgen würde mir vielleicht die Kirchtürme ins Auge stechen, oder die Grussbotschaften selbst vorne aufs die Landschaft geschrieben: Seewis, dein Papa.
Dienstag, 9. Februar 2010
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